Samstag – 29. Juni 2019 – Versuch eines Fazits
Und? Wie wars? Das war die „Frequently Asked Question“ – die häufigste gestellte Frage. Tsja, was soll man darauf antworten? Ich habe darauf keine schnelle Antwort. „Unbeschreiblich!“ Das habe ich meist als Erstes gesagt. Direkt nach unserer Rückkehr habe ich kein ganzes Bild vom Erlebnis Camino vor Augen gehabt. Auch heute sehe ich den Jakobsweg noch nicht als eine einzige Erinnerung. Jeder Tag, jede Etappe und jede Stadt … manchmal sogar nur eine Kurve, ist eine Erinnerung für sich. Ich glaube das ist nie möglich, alles zu verarbeiten. Mit Hilfe meines Tagebuchs (was du eben gelesen hast) und unseren tausenden Fotos kann ich den Weg langsam nachzeichnen. Aber nur anhand der Daten. Meine Erinnerungen sind noch viel, viel größer. Ich bekomme immernoch Gänsehaut beim Lesen der Ankunft in Santiago. In einem „normalen“ Jahresurlaub ist man in einer oder in zwei Unterkünften. Diese bleiben immer die gleichen. Die Abläufe dort kennt man nach der zweiten Nacht und beginnt auch im Urlaub, alles automatisch zu machen. Wenn man sich dort auch jeden Tag etwas Anderes ansehen würde, hast du während diesem Urlaub 2 Unterkünfte und 14 Orte gesehen. Das entspricht auf dem Jakobsweg die Empfindungen von einem Tag. Die ersten drei Tage nach unserem Start in Burgos bekomme ich noch zusammen. Danach verschwimmen Orte, Bilder und Erlebnisse von Tag zu Tag mehr. Santiago als großes Zwischenziel ist dann wieder greifbar. Die 20 fehlenden Tage davor und die Tage danach gehen nur anhand meiner Aufzeichnungen in meinen Kopf. Zahllose Kleinigkeiten die plötzlich so wichtig und interessant werden. Mein Chef in Stollberg und ein paar andre haben nur mit einer Höflichkeitsfloskel nachgefragt. „Und, hast du Blasen gehabt?“ Mehr Interesse kam aus Stollberg nicht. Vermutlich sind manche immernoch der Meinung wir wären nochmal über die Alpen. Frage > Antwort: „Tatsächlich eine.“ Man kann also auch in zwei Worten sagen wie ein Monat Jakobsweg war. Andere fragen so interessiert nach, dass die Zeit verfliegt und man gar nicht alles erzählen kann. Wenn ich versuch es ehrlich und kurz zu sagen ist „unbeschreiblich – unvergleichbar – einzigartig“ am treffendsten.
Andere Pilger. Anfangs war ich etwas traurig, keine Deutschen unterwegs zu treffen. Ja OK, wäre sicher auch lustig gewesen. Das was das Pilgern ausmacht, haben wir auch mit Engländern, Italienern oder Asiaten erlebt. Der Camino ist europäisch. Mindestens! International und Multikulti, was mir so gefällt. Camino Freunde fürs Leben habe ich keine mitgebracht. Bei manchen ist es aber traurig, dass man danach keinen Kontakt hat. Man hat immer eine Person, einen Pilger vor sich. Du siehst nicht ob er Banker, Doktor oder Bauer ist. Alle erleben das gleiche. Alle haben die gleichen Probleme mit dem Weg. Alle sind trotzdem gut gelaunt. Ich erinnere mich an eine Pilgerin die anfangs flott unterwegs war. Tage später trafen wir sie humpelnd wieder. In Sarria lief sie vor uns ohne Gepäck und langsam wie eine Schnecke. Sie fuhr da die Etappen schon mit dem Bus, traf unterwegs ihren Mann, der den Weg noch pilgerte, und fuhr dann weiter zur nächsten Herberge. Ich sah sie dann erst in Santiago wieder. Auf dem Platz vor der Kathedrale. Mit zwei Krücken und einem dick verbundenen Fuß. Aber sie lachte breit übers ganze Gesicht. Der Jakobsweg scheint irgendwie alle glücklich zu machen. Jeder bekommt vom Camino genau das was er braucht. Es gibt … auffällige Pilger wie unsere Schnabbel oder den Chanel-Pilger. Diese beachtet man natürlich mehr. Gleiches gilt aber auch für andere. Die zum Beispiel besonders gut singen können oder einfach nur super nett sind. Einen unfreundlichen oder gar aggressiven Pilger habe ich nie gesehen. Herzlichkeit und Hilfsbereitschaft in einem auffällig, ungewöhnlich großem Maß. Wäre die ganze Welt ein Camino und wären wir alle Pilger, wir bräuchten keine Kriege, Grenzen oder Armeen mehr. Standartsprache untereinander ist Englisch. Zur Höflichkeit (fanden wir) gehört es in Bars, Geschäften oder Herbergen, wenigstens ein paar Sätze spanisch zu können. … was aber kein muss ist!
Schnarcher. Klar. Die gibt es fast jeden Abend. Wenn du aber auf den Jakobsweg gehst ohne Ohropax im Gepäck … dumm gelaufen. Aber selbst dann hast du unterwegs ganze Automaten voller Pilgerbedarf. Ähnlich der Getränkeautomaten bei uns, findest du unterwegs Automaten mit Blasenpflaster, Voltaren, Kniebandage und eben auch Ohropax. In manchen Städten sind ganze Läden nur mit diesen Automaten eingerichtet.
Das Wetter. Naja. Was packt man ein wenn man nach Spanien fliegt? Sonnencreme? Hatten wir. Kurze Hosen, T-Shirt und Sandalen? Hatten wir. Mit Schnee hatte ich allerdings nicht gerechnet. Ich hätte es mir anfangs wärmer gewünscht. Am Ende war aber alles gut so wie es war. No pain – no Story.
Unser Gepäck. Ansich habe ich alles dabei gehabt was ich brauchte. Abgesehen von den Handschuhen die mir Antje organisierte. Jedes Gepäckstück habe ich gebraucht und benutzt. Einzig etwas unnütz war unser Flachmann. Als letzter Mutmacher an nicht enden wollenden Lauftagen sollte er eingesetzt werden. Was in Deutschland problemlos möglich ist, eine kleine Flasche Wodka, Korn o.ä. zum Nachfüllen zu kaufen, ist in Spanien nicht möglich. Kleine Flaschen Alkohol sind Fehlanzeige. Aus der Verzweiflung haben wir den Flachmann einmal in Leon (mit einem zuckersüßen Likör) und einmal später mit einem Anislikör aufgefüllt. Ekelhaft süß. Den werde ich beim nächsten Camino zu Hause lassen.
Die Spanier. Von denen sollten wir lernen. Die sehen alles nicht so eng hatte ich das Gefühl. Ist die Brücke etwas eingestürzt? Leg ein Absperrgitter über das Loch und weiter geht’s. Stromkabel? Muss man nicht unbedingt durchsehen welches wohin führt. Ladenöffnungszeiten? Wenn offen ist – ist offen. Alle sind entspannt. Mittags in der Bar sitzen und ein/zwei Gläser Wein trinken? Das müsstest du dir als deutscher Angestellter mal erlauben. Es muss nicht immer alles überbewertet werden. „Geht schon so“ tut es öfters auch. Einmal pro Jahr werden die Ergebnisse einer europaweiten Befragung veröffentlicht. In welchem Land leben die zufriedensten Menschen? Die Spanier sind seit Jahren auf Platz 1! Wobei wir in Deutschland die viertletzten im Ranking waren. Wir saßen einmal vor unserer Herberge und schrieben Tagebuch. Ein Bauer kam gelaufen, legte sich auf die Mauer vor der Herberge und machte einen Mittagsschlaf. Die Hospitalera in dieser Albergue verabschiedete sich zum Essen und blieb über Stunden verschwunden. Allen ankommenden Pilgern haben WIR die Räumlichkeiten gezeigt und sie haben sich eingerichtet. „Geht schon so.“ Ja, das geht es! Ich liebe dieses Spanien.
Das Essen. In den Herbergen meist einfache Gerichte mit einem Wow-Effekt. Mit Kreativität aus einfachen Sachen etwas Besonderes gemacht. Lokale Spezialitäten sind meist Süßspeisen die oberlecker sind! Vegetarisch ist auf dem Camino nicht immer möglich. Es gibt vegetarische Bars und Herbergen unterwegs aber die sind noch nicht sooo häufig. Unterwegs in den Geschäften fehlte uns das dunkle Brot. Helles Brot in jeder Form und ein gemischtes (Integral) was auch nur gefärbt ist. Der Cafe con Leche ist weltklasse. Wir in Sachsen sind ja auch für den hohen Kaffeekonsum bekannt. Der Kaffee in Spanien ist anders aber immer erstklassig. Pizza kommt meist aus der Mikrowelle. Bocadillos (belegte Brötchen) oder Tortilla (Rührei mit Kartoffeln) bekommt man in fast jeder Bar. Zu jedem Bier bekommst du in der Bar Tapas. Kleine Häppchen die immer anders sein können. Von warm bis kalt, von Nüssen bis Pasteten. Zum Pilgermenü kannst du wählen zwischen Wasser und Wein. Gleiche Menge – gleicher Preis. Zum Teil bekamen wir sogar neuen Wein wenn die Flasche am Tisch leer war. Achja, Wasser haben wir nie gewählt. 😉
Die Pilgerherbergen. Wir haben oft nach den öffentlichen Herbergen gesucht. Öffentliche oder auch gern kirchliche. Die Herzlichkeit in den kirchlichen Herbergen war immer am größten. Hätte diese Möglichkeit in jeder Stadt bestanden, hätten wir uns immer nur dafür entschieden. Das gemeinsame Essen bringt auch die Kontakte die den Jakobsweg so besonders machen. Die etwas noblere Variante ist die privat geführte Herberge. Meist ein klein wenig komfortabler und weniger Betten pro Schlafraum. Bettwanzen waren NIE ein Thema (außer die Vorsichtsmaßnahme in Pieros). Seltsam fanden wir die 1A eingerichteten Küchen in den öffentlichen galicischen Herbergen – ohne jegliches Geschirr oder Besteck. Wer schleppt schon Töpfe und Teller mit?
Die Kosten. Zum Pilgern braucht es nicht viel Geld. Wenn man im Vorfeld plant, die kirchlichen und öffentlichen Herbergen zu nutzen, günstig isst und trinkt, kommt man mit 500 Euro pro Monat hin. Wir haben uns ab und zu eine private Herberge gesucht oder sogar Doppelzimmer genommen. Hin und wieder in Bars gegessen und zwei/drei Kaffeepausen am Tag gemacht. So sind wir auf ungefähr 1000 Euro gekommen. Inklusive Eintrittspreise, Nahverkehr, Souvenirs (und die Kosten für Toiletten in Deutschland).
Am Anfang habe ich geschrieben: „Jetzt bin ich gespannt, was der Camino für mich bereithält.“ Was hat mir der Weg gebracht? Erkenntnis?! Ja, ich denke das passt. Abgesehen von unzählbaren touristischen Highlights ist die Zeit zum Nachdenken das, was Erkenntnisse bringen kann. Man läuft täglich mehrere Stunden. Da ist sogar viel Zeit zum Nachdenken. Ich habe anfangs noch an aktuelle Sachen gedacht. Die Anreise, meine Ferse, wohin laufen wir heute, das Chaos auf dem Flughafen. Danach über mein Leben. Unbewusst habe ich mich an meine Kindheit erinnert. Die Tage vor Weihnachten die immer gleich abliefen. Die Sommerferien als Kind. Die Wohnung meiner Eltern in Mittelbach. Welche Möbel nach und nach ausgetauscht worden sind, wo Steckdosen oder Lichtschalter waren, selbst welche Unordnung ich in welchen Schränken hatte. Auch Kleinigkeiten wie ein Nachtlicht in unserem Flur sind mir eingefallen und waren mir wieder bildlich vor Augen. Selbst kleinste Kindheitserinnerungen kommen wieder zum Vorschein wenn man nur Zeit zum Nachdenken hat. So habe ich mein Leben bis zum heutigen Tag überdenken können. Hier, zu Hause hat man diese Zeit, besser gesagt die Ruhe, nicht! Das meditative Laufen über Stunden ist vermutlich der Schlüssel dazu. Ja und irgendwann hast du dann über alles nachgedacht. Mir hat sich die Frage gestellt, ob ich denn zufrieden bin mit diesem, meinem Leben. Ich habe mich in Spanien regelrecht selbst angeklagt. Ich weiß was meine negativen Eigenschaften sind und was meine Fehler sind. Wenn ich weiß was sich nicht richtig anfühlt, kann ich es auch ändern. Ich habe am Anfang auch die Warnung erwähnt die man Shirley Maclaine sagte: „Dass man „als eine andere Person“ zurückkehren könnte“. Ich glaube das könnte auf einige tatsächlich so wirken. Wenn du dir selbst nicht mehr in die Augen sehen kannst und dann die Gründe beseitigst, bist du keine „andere Person“ – aber dann hast du dich wieder richtig aufgerichtet. Sichtbar bleiben bei mir keine großen Veränderungen. Ich habe ein paar Tage nach unserer Rückkehr meinen Job in Stollberg gekündigt. Unzufrieden und innerlich wütend war ich schon länger über dieses „Verhältnis“. Manchmal war ich aber zu bequem für Konsequenz. Nach einem Monat offline in Spanien ist mir aufgefallen, dass mir Facebook nur Zeit klaut und mich am Ende dann immer wütend zurücklässt. Ich muss nicht wissen, welcher zweifelhafte Patriot blind alles teilt was Hass verbreitet.
Noch eines der Zitate vom Anfang war von Hape Kerkeling. Der sagte, dass seine „Worte nicht ausreichen, um das Gefühl zu beschreiben“. Genau so ist es! Es ist nie und nimmer möglich, alles Erlebte, Gesehene und Gefühlte, mit Worten zu beschreiben. Das sage ich nicht aus Bequemlichkeit weil ich zu faul bin, alles aufzuschreiben. Ich würde mich vor lauter Superlativen im Kreis drehen und du würdest denken, ich spinne. Hape hat einmal sehr treffend auf die Frage geantwortet „Was der Jakobsweg in seinem Leben verändert hat.“ Er hat daraufhin einen Kugelschreiber auf den Schreibtisch gelegt und die Spitze um ein paar Millimeter verschoben. „Wenn der Kugelschreiber, und die gedachte Verlängerung nach vorn, mein Leben vor dem Jakobsweg war – ist die kleine Richtungskorrektur mein Leben nach dem Weg. Im Moment eine klitzekleine Veränderung. In ein paar Jahren aber ein ganz anderes Leben.“
Wenn du einmal mit dem Caminovirus infiziert bist, lässt dich dieser auch nicht mehr los. Es ist schön, dass ich von Antje mit dem Virus infiziert worden bin. Vermutliche der einzige Virus der heilt. Es ist schon ein kleines Wunder, dass wir diesen Weg überhaupt zusammen gehen konnten. Alles voran ging unser Mut. Nichts passiert durch Zufall. Wir sind nicht zum letzten Mal zusammen in Santiago gewesen!
„Angekommen am Punkt, an dem die Füße nicht mehr tragen.
Angekommen am Punkt, an dem kein Weitergehen sich lohnt.
Angekommen am Punkt, wo alles, was du je gesät, angesichts der Größe, in Vergessenheit gerät.
Angekommen am Punkt, an dem sich alle Geister scheiden.
Angekommen am Punkt, an dem der Tatendrang vergeht.
Angekommen am Punkt, wo jede Flucht ihr Ende findet.
Angekommen am Punkt, an dem sich Jagdlust in dir legt.
Angekommen am Punkt, wo jeder ruhelose Träumer sich eingestehen müsste, hier ist Schluss, hier ist die Küste. An diesem Punkt verweil‘ ich einen langen Augenblick,
dann dreh ich um und seh‘ nach vorn, muss weiter, muss zurück!“
Danke Antje!
Danke Mutti & Vati!